Antisemitismus Kongress der ÖH – die Rede von Susanne Scholl

Rede beim Antisemitismus-Kongress der ÖH am 15.11.18

Meine Mutter war 22 Jahre alt, als sie 1938 aus diesem Land fliehen musste.
Ihre Eltern waren jünger, als ich heute bin.
Sie hatten ihre vier Töchter dazu gedrängt, dieses von den Nazis besetzte Land zu verlassen. Die Jungen, so sagten sie, hätten hier keine Zukunft, ihnen, den Alten, werde schon nichts passieren.
Meine Mutter hat bis zu ihrem Tod im Jahr 2015 behauptet, sie habe vor 1938 nie Antisemitismus in Wien erlebt. Das lag aber wohl an ihrer durch die Vertreibung bedingten Verklärung dieser Stadt, die ihr immer Heimat war. Denn natürlich wissen wir inzwischen, dass diese Wahrnehmung einfach nicht der Realität entsprach.
Antisemitismus war und ist immer schon da gewesen und dient vor allem auch dem Kampf gegen eigene Minderwertigkeitskomplexe gegen Ohnmachts- und Hoffnungslosigkeitsgefühle.
Vor kurzem habe ich im Konzerthaus den Film „Stadt ohne Juden“ nach dem Roman von Hugo Bettauer gesehen.
Das Buch Bettauers hatte ich vor vielen Jahren voller Erstaunen gelesen.
Denn da wurde in den späten 1920er Jahren ganz eindeutig über den überhand nehmenden Antisemitismus in diesem Land gesprochen – lange bevor die deutschen Nazis Österreich vereinnahmten.
Für mich, die Nachgeborene – die Zeitzeugin der zweiten Generation –war zweierlei verblüffend. Zum ersten Bettauers Feststellung, wie sehr Österreich ohne Juden verarmen würde, im wörtlichen wie im geistigen Sinn. Zum zweiten aber seine Überzeugung, dass man die Juden bitten würde zurück zu kommen und sie mit Jubel empfangen würde.
Wir alle wissen heute, dass dem natürlich nicht so war.
Als meine Mutter 1946 aus der englischen Emigration zurückkehrte wusste sie nichts Genaues über das Schicksal ihrer Eltern. Auf der Suche nach Informationen kam sie in ihr altes Wohnhaus und traf dort eine ehemalige Nachbarin. Und die sagte ihr, ihr Vater, mein unbekannter Großvater, habe ihr, der Nachbarin, seinen wertvollsten Besitz anvertrauen wollen, seinen Radioapparat. Als man ihn holen kam. Sie aber, die Nachbarin, habe diesen nicht nehmen wollen, sie habe gedacht, es liege ein Fluch darauf.
Soviel zur weit verbreiteten Behauptung, man habe nicht gewusst, was da geschehe.
Meine Großeltern sind kaltblütig ermordet worden. Bevor man sie nach Maly Trostinec bei Minsk deportierte hatte man sie aus ihrer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung noch in eine Sammelwohnung gezwungen. Es hatte noch jemanden gegeben, der ihnen ihre schäbige Wohnung neidete. Sie wurden in einem Viehwaggon transportiert und weil die Mörder am Wochenende nicht arbeiteten liess man sie im Sommer 1942 drei Tage ohne Wasser und Brot in den Waggons warten, bevor man sie hinaustrieb vor den Graben, in dem die Leichen der vor ihnen Ermordeten lagen.
Das erfuhr meine Mutter, als sie aus der Emigration zurück kehrte. Und glauben sie mir, keiner hat sie mit offenen Armen empfangen. Keiner hat versucht, ihr beizustehen, als sie das Unvorstellbare erfuhr, als man ihr Schwarz auf Weiss erklärte, was man ihren Eltern angetan hatte.
Der Antisemitismus der Nazis ging damals am Ende des Krieges in den Untergrund aber der alltägliche Antisemitismus blieb fortbestehen.
In diesem Land genau so, wie in unseren Nachbarländern.
Ich bin eine Nachgeborene. Aber auch ich, die aufgewachsen ist mit dem Versprechen, dass sich nie wiederholen werde, was so unglaublich und doch geschehen ist, habe schon als Kind gelernt, dass man sich besser unsichtbar macht, wenn wieder der Hass die Stimme erhebt.
Einige Beispiele:
Da geht’s zu wie in einer Judenschule – gesprochen von einem Mann während eines Schulschikurses, als ich 13 Jahre alt war.
Ich hab an Jud – erklärt von einem Schulkollegen, dessen Zigarette nur halb angezündet war.
Der Kreisky der Saujud – meiner Mutter und mir während einer Taxifahrt mitgeteilt.
Ich kann diese Liste beliebig fortsetzen. Und ich kann sie aktualisieren.
Die Ausländer, die können ja alle nicht arbeiten. Die machen hier alles kaputt und wir müssens dann aufräumen.
Die sind fremd, die kennen unsere Werte nicht.
Die wollen wir hier nicht haben.
Ja, heute bezieht sich der Hass nicht mehr unbedingt nur auf die Juden.
Wobei ich nicht umhin kann Tom Lehrer zu zitieren, der in einem seiner wunderbaren Songs aufgezählt hat, wie jede Gruppe von Menschen eine andere Gruppe Menschen ablehnt, am Ende aber feststellt: And everybody hates the Jews. Und alle zusammen hassen die Juden.
Also – trotz dieser Weisheit.
Heute braucht man nicht mehr unbedingt nur die Juden als Hassobjekt.
Heute müssen auch Muslime dazu herhalten, Menschen mit anderer Hautfarbe und anderen Lebensgewohnheiten. Menschen mit Verfolgungsgeschichten auf der Suche nach einem Ort zum menschenwürdig leben.
Damals wollte keiner die Juden haben. Stefan Georg Troller hat es in einem Interview zusammengefasst, in dem er erzählte, dass man den den Mördern entkommenen Juden vorwarf, anderen ihre Jobs wegnehmen zu wollen.
Willkommen waren die Flüchtenden damals nur dort, wo man ihre Arbeitskraft brauchen konnte.
Kommt ihnen das bekannt vor?
Die Eltern meines Vaters sind noch im Dezember 1939 vor den Nazis nach Belgien geflüchtet.
Und die belgische Polizei behandelte sie wie Kriminelle.
Sie mussten sich jede Woche melden. Und jede Woche drohte man ihnen mit der Abschiebung, zurück nach Nazi-Deutschland – Österreich existierte ja nicht mehr.
Auch daran muss ich denken, wenn ich abschlägige Asylbescheide lese, in denen es heißt, es gebe keinen Grund, Menschen nicht ins lebensgefährliche Afghanistan zurück zu schicken.
Mein Großvater schrieb damals an meinen Vater in England, er wisse nicht, was aus ihm und meiner Großmutter werden sollte, wenn man sie nach Deutschland zurück schicken würde.
Es hat nichts genützt.
Mein Großvater starb bei einem deutschen Bombardement.
Meine Großmutter wurde in Auschwitz ermordet.
Diese meine Großeltern haben sich selbst nie als Juden verstanden – und doch zwang man sie vor ihrem Tod noch die jüdischen Namen Israel und Sara ihren ganz normalen deutschen Namen Emil und Agnes hinzu zu fügen.
Heute reden wir nicht mehr von Israel und Sara sondern von Ali und Mustafa, mokkieren uns über Frauen mit Kopftüchern und all zu viele fühlen sich im Recht, wenn sie „denen“, den „anderen“ eigentlich ihr Lebensrecht absprechen.
Nein, ich will weder die Verbrechen der Vergangenheit banalisieren, noch will ich ungültige Vergleiche ziehen.
Aber.
Meine Mutter starb im Herbst 2015.
Sie war bis zuletzt hellwach und sah, was rund um sie geschah.
Und als sie so vor den Fernsehapparat sass und sah, was man Flüchtenden so alles vorwarf sagte sie eines abends, sie müsse jetzt immer daran denken, wie sie auf dem Weg in die Emigration von deutschen Soldaten aus dem Zug geholt worden sei, die sie nur im letzten Moment hatten weiterfahren lassen.
Hätten sie sie aufgehalten stünde ich wahrscheinlich heute nicht hier.
Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht, nicht einmal als Farce. Aber sie neigt dazu nicht zu vergehen, wenn die Menschen sich nicht mit ihr auseinandersetzen wollen.
Genau das aber geschieht heute.
Und plötzlich – und im Gleichschritt mit Xenophobie, Rassismus und Ablehnung allen unbekanntes – hebt auch der immer latent vorhandene Antisemitismus wieder sein Haupt.
Da tauchen Liederbücher auf, in denen von der siebenten Million die Rede ist, die es noch zu ermorden gilt.
Da stellen Menschen ohne jedes Gewissen ihren Müll auf den Gedenksteinen für die Ermordeten ab.
Und da werden schwülstige Erinnerungsreden gehalten und im jetzt und heute gesprochen, wie damals.
Es beginnt ja immer mit der Sprache.
Heute wäre es nicht mehr salonfähig von Saujuden zu sprechen.
Aber man darf sich über Frauen mit Kopftuch lustig machen.
Man wagt es nicht mehr über den industrialisierten Mord zu reden, aber man lässt keinen Zweifel daran, dass einem die Ertrinkenden im Mittelmeer keinen Gedanken wert sind.
So lange ich denken kann hiess es „nie wieder“ und „wehret den Anfängen“.
Wir haben die Anfänge nicht sehen wollen.
Aber heute sind wir mitten drin.
Und heute gilt es nicht nur den Wurzeln des Antisemitismus nachzuspüren, es gilt auch dem Hass insgesamt unser aller gesammelte Kraft entgegenzustehen.
Es geht um euer künftiges Leben – es geht um die Demokratie und die Zivilisation, die heute auf dem Spiel stehen.
Deshalb bitte ich euch: Seid laut und schaut genau hin.